Eine kafkaeske Gratwanderung zwischen Normalität und Absurdität, zwischen Surrealismus und Realismus.
Wie viel wissen wir eigentlich über unsere Nachbarn? Fast täglich sehen wir sie, halten vielleicht mal die Tür auf und grüßen nett, bevor wir wieder unserer Wege gehen. Meistens. Nicht so der Protagonist des Kurzfilms DER NACHBAR.
Im Büro neben dem jungen Mann ist jemand Neues eingezogen. Angeblich habe „Harras“ ein ähnliches Geschäft wie seines, was den Bürokraten zu tiefergehenden Überlegungen treibt: Wofür braucht er die Küche, die es in meiner Wohnung nicht gibt? Wieso hat er es im Hausflur immer so eilig? Belauscht er mich heimlich beim Telefonieren? Wirbt er mir vielleicht meine Kunden ab, noch bevor ich den Hörer aufgelegt habe? Die Unwissenheit frisst die den Protagonisten innerlich auf. Anstatt mit dem Hausgenossen selbst in Kontakt zu treten, beginnt die Schnüffelei nach Anhaltspunkten zur Identität des Gegenübers. Aber verschafft sie Befriedigung?
Nach der Vorlage der gleichnamigen Kurzgeschichte von Franz Kafka nimmt uns Regisseurin Caroline Reucker mit auf einen Seelentrip der Paranoia. Sie kehrt das Innerste des Protagonisten nach außen, wobei die ungeheure Distanz gewahrt wird. Nach neun Minuten ist immer noch ungewiss, wie der beschriebene Mann heißt, ob er Familie hat oder was er macht, wenn er nicht spioniert. Charakteristisch und passend zur Schreibe des Autors findet man das Schreckliche im Alltäglichen. Passend dazu sind die bizarren Momentaufnahmen, bei denen sich – ganz kafkaesk – Trivialitäten zu Gedankenraserei verwandeln. Durch sehr wenig Schnitte und die ruhige Kameraführung entsteht eine insgesamt beklemmende Atmosphäre. Bleibt nur zu hoffen, dass das Verhalten der Hauptfigur nicht auf mich überschlägt und ich beim Gang auf den Flur nicht vollkommen ausraste.